Högis Cyberspace

Gerhard Höger-Hansens private Website

Eine gute Freundin, deren Tochter in den USA lebt, berichtet mir dieser Tage, sie hätte sich bei Ihrer Tochter "arg in die Nesseln gesetzt". Die Tochter ist eine gebildete Frau und lebt in der Nähe von New York auf dem Land. Was war geschehen?

Sie (die Mutter) hatte es gewagt, einen Link über die Obduktionsergebnisse von Klaus Püschel an Ihre Tochter zu schicken. Dr. Püschel gehört wohl zu den wenigen Pathologen, die entgegen einer vorsorglichen Warnung des RKI "Corona-Tote" obduziert hatten (welcher Bericht das genau war, weiß ich nicht, vielleicht der hier aus der Tagesschau: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-690885.html)

Ohne dass mir Details bekannt sind (ich kenne auch die Tochter nicht persönlich), muss die Reaktion heftig gewesen sein. Die Tochter verlässt das Haus nicht mehr, lässt sich alle Lebensmittel ins Haus liefern, und findet es "absolut unverantwortlich", dass ihre Mutter (um die 70, topfit) noch selbst einkaufen geht.

Mir kam bei dem Gespräch spontan ein weises Wort aus meiner alten Heimat in den Sinn:

D' Menscha wärat scho recht, aber d' Leit!

(altes schwäbisches Sprichwort)

Auch ich habe schon zu Beginn der Pandemie aufgrund einer sarkastischen Bemerkung arge Haue bekommen, zum Glück nur verbal. Aber mir fällt schon auf, dass z.B. Leute, die es völlig unproblematisch finden, mit 200 km/h über die Autobahn zu fahren, in der Anfangsphase die Ersten waren, die Bedenken wegen einer (damals noch erlaubten) Chorprobe äußerten - seither habe ich auch, außer in der Dusche, nirgends mehr singen können. Dabei soll Singen ja so gesund sein, das nur nebenbei.

Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken,
Verderblich ist des Tigers Zahn,
Jedoch der schrecklichste der Schrecken,
Das ist der Mensch in seinem Wahn.

(Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke)

Es wird Zeit, einmal darzulegen, warum ich in der gegenwärtigen Situation keine Angst vor dem Virus habe, mich aber die Sorge um mein Land und mein Umfeld so umtreibt, dass es mir den Schlaf raubt.

Wovor ich Angst habe

Ich gehöre - Jahrgang 1962, Nachzügler, meine Eltern waren Jahrgang 1920 und 1924 - einer Generation an, für die die Urkatastrophe des 20 Jahrhunderts das tausendjährige Reich und der zweite Weltkrieg war. Mein Vater hat mir in der Phase der Adoleszenz, so um die 13 bis 16, viel von seinen Kriegserfahrungen berichtet (1941 bis 1944 Ostfront als Funker, mehrfach verwundet, 1944 bis 1948 Kriegsgefangenschaft in Archangelsk am Weißen Meer). Nach dem, was ich von anderen höre, ist er damit eine rühmliche Ausnahme gewesen, bzw. die Umstände haben es ergeben, dass ich als einziger Sohn - und immer neugierig - für ihn in seiner Midlife-Crisis der passende Gesprächspartner war.

Ich hatte auch das Glück, dass meine Eltern um das Thema Tod weniger einen Bogen gemacht haben, als es bei vielen anderen der Fall zu sein scheint. Als meine Großmutter mütterlicherseits starb - die einzige Oma, deren Lebenszeit sich mit der meinigen überschnitten hat - durfte ich mich z.B. verabschieden und habe zum ersten Mal einen Leichnam berührt. Da war ich 10 oder 11. Auf meinem weiteren Weg hat der Tod immer mal wieder meinen Weg gekreuzt, sei es im passiven Sinne (Zivildienst im Männerwohnheim der Caritas, Sterbebegleitung meines Vaters und meiner Schwiegermutter) als auch im aktiven Sinne (Beinahe-Unfälle, die auch hätten anders ausgehen können).

Beruflich befasse ich mich - als Ingenieur, der sich Problemlösungen für technische Dokumentationssysteme ausdenkt - seit Jahrzehnten mit komplexen Zusammenhängen und Algorithmen zu deren Handhabung und brauche unter anderem ein realistisches Gefühl für Zahlen und Größenordnungen, um nicht über versehentlich falsche Ergebnisse zu stolpern. Ebenso bin ich gewohnt, mein eigenes Arbeiten zu hinterfragen, denn ich erarbeite die meisten meiner Lösungen selbständig und kann bestenfalls auf ein "peer review" hoffen, wenn denn ein "peer" greifbar ist, der dazu noch Zeit hat.

Warum ich das erzähle? Es macht für den Außenstehenden vielleicht ein paar Dinge verständlich:

  • Ich frage mich oft, wie es seinerzeit (in den tausend Jahren von 1933 bis 45) so weit kommen konnte - und ich mache mir häufig bewusst, wie wertvoll es ist, in einem freien und demokratischen Rechtsstaat zu leben.
  • Ich habe gelernt, zu reflektieren und meine eigenen Ängste zu hinterfragen. Der Umgang mit der Angst scheint mir ein Schlüssel zu einem erfüllten und autonomen Leben zu sein.
  • Ich werde sofort hellhörig und äußerst misstrauisch, wenn mir jemand mit Kriegsrhetorik kommt
  • Ich hinterfrage Zahlen routinemäßig und möchte ihre Hintergründe kennen, bevor ich sie als gegeben hinnehme.
  • Ich bin mir - im Rahmen dessen, was Mensch emotional aushält - meiner Sterblichkeit bewusst

Vor diesem Hintergrund erlebe ich auch die gegenwärtige Pandemie. Ich kann gar nicht anders.

Daher habe ich persönlich Angst - oder sagen wir lieber: Ich sorge mich ...

...um unsere Debattenkultur

Eine freie Gesellschaft lebt von der Diskussion auf sachlicher Ebene. Argumente und Gegenargumente sollten abgewogen werden und die Begründung von Entscheidungen sollte nachvollziehbar sein.

Dominiert von Angst - deren Hintergrund zumindest fraglich ist - ist das mittlerweile äußerst schwierig geworden.

Angst ist lebenswichtig, wenn es um die Vermeidung von Gefahren geht - ein instinktiver Mechanismus, der uns z.B davor bewahrt, irgendwo herunter zu fallen oder auf die heiße Herdplatte zu fassen.

Angst lähmt, wenn sie sich nicht auf reale Gefahren bezieht und vom Staat instrumentalisiert wird, und zumindest das darf man, denke ich, unterstellen - wenn auch vielleicht oder hoffentlich in guter Absicht.

Momentan (24.04.2020) tut sich da wieder etwas, ich würde mir nur wünschen, es wären teilweise andere Akteure und nicht Lindner und die AFD; ich habe mir dazu noch keine klare Meinung gebildet, es beunruhigt mich aber.

... um unser Zusammenleben

Der Mensch, wage ich zu behaupten, ist ein soziales Wesen.

Soziale Isolation ist an sich schon ein gesundheitlicher Faktor, denn wir Menschen brauchen unsere Mitmenschen für die seelische Gesundheit (siehe auch den Freitag-Artikel unten).

Momentan wird aber alles getan, um Menschen voreinander Angst zu machen. Wir ach so aufgeklärten Menschen tun zwar so, als ob uns ein Gegenüber mit Maske völlig kalt lässt (in gewissem Sinne tut es das ja), das Gefühl aber sagt mir, dass ich den nicht einschätzen kann, der da zu mir spricht.

Wie werden wir füreinander empfinden, wenn wir uns gegenseitig vorrangig als potentielle Gefahr verstehen? Was löst das in uns aus?

... um unseren Humor

Ich äußere mich gerne mal mit ironisch-sarkastischen Kommentaren. Ich liebe Wortspiele, was ich wohl von meinem Vater geerbt habe.

Ich habe mich oft gefragt, was denn die Dämonen des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet hat (Hitler, Stalin, wahrscheinlich auch Pol Pot und andere) - ein wesentliches Merkmal scheint mir ihre Humorlosigkeit zu sein. Man findet das heute auch wieder bei Herrn Erdogan, das nur am Rande.

Nun leben wir in einer Zeit, da werden sie mit Humor auch ganz schnell anecken - "wie kann man angesichts der Leichenberge..." usw... - und das hinterlässt bei mir ein ungutes Gefühl. Humor ist in meinen Augen ein wichtiges Korrektiv und verhindert, dass wir uns selbst allzu sehr ernst nehmen. Und zwar der Humor auch in eigener Sache - wer erst mal herzlich lacht, wenn er sich blöd angestellt und dabei irgendwas zerdeppert hat, leidet schon weniger unter dem Verlust.

Aber dazu hat der Wiener Psychiater Bonelli (siehe unten) so Geistreiches gesagt, dass ich nichts hinzuzufügen habe.

... um unsere Demokratie

Wie wird sich das Ganze Hickhack auf unser politisches System auswirken?

ich weiß es nicht. Es gibt viele, vor allem im linken Lager, die von realen Verbesserungen träumen als Lehre aus der Krise; Krankenschwestern und Pflegekräfte verdienen mehr und werden im Verhältnis zu ihrer faktischen "Systemrelevanz" geachtet, die Dominanz der Marktideologie wird zurückgedrängt zugunsten einer umfassenderen Daseinsvorsorge, es gibt gar ein bedingungsloses Grundeinkommen etc.

Ich bin da, sorry, sehr skeptisch. Ich sehe nicht, wo sich Machtverhältnisse - und darauf kommt es doch letztlich an - zugunsten des Gemeinwohls verschoben hätten in dieser Krise. Ich ahne aber, dass viele Menschen wirtschaftlich ins Aus gekegelt und bestenfalls zu Bittstellern werden.

Interessant wird es mit Sicherheit sein, wie die Welt auf die ziemlich umfassende Wirtschaftskrise reagieren wird.

Wird die EU, die ohnehin durch nationale Egotrips (auch unsererseits), den Brexit und vielleicht auch durch eine zu schnelle und machtpolitisch motivierte Osterweiterung geschwächt ist, die Verwerfungen überleben, wird sie vielleicht auseinander fallen, und was käme dann?

Und nun?

Warten wir es ab und tragen, was immer da kommen mag, mit Humor!

Und halten wir es mit Heinrich Heine, der da sagte:

Augen gab uns Gott ein Paar,
Daß wir schauen rein und klar;
Um zu glauben was wir lesen,
Wär ein Auge gnug gewesen.

Heinrich Heine, Zur Theleologie

Bleiben wir gesund, auch geistig...

Weiterführende Links:

Die Süddeutsche über die Obduktionen von Corona-Opfern

Arte-Dokumentation über die Schweinegrippe 2009 (leider mit nerviger Werbung, aber nur am Anfang. Leider ist die Doku nicht mehr auf Arte verfügbar)

Artikel in der schweizer WoZ über die Schweinegrippe

Artikel in "Der Freitag" über die Folgen von "Social Distancing"

Sehr amüsanter Kommentar von Raphael Bonelli

... und der zugehörige Wikipedia Artikel (nein, das ist KEIN Träger von Aluhelmen)

Richard David Precht über Lehren aus der Coronakrise

Vom BVMW (Bundesverband der Mittelständischen Wirtschaft) initiiertes Expertengespräch  (leider auch auf zweifelhaften Seiten zu finden, aber was will man machen in Zeiten wie diesen?)